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Religionen waren einst das geistige Rückgrat der Menschheit. Sie boten Antworten, wo es noch keine Wissenschaft gab. Sie spendeten Trost in Zeiten des Leids und halfen, das Unerklärliche zu begreifen. Doch mit der fortschreitenden Entwicklung der Menschheit hat sich auch das Verhältnis zur Religion verändert. Während viele Menschen ihren Glauben im Privaten leben, bleiben die Schattenseiten religiöser Machtstrukturen bis heute spürbar – mit tragischen, oft zerstörerischen Folgen.
Die Geschichte der großen Weltreligionen ist nicht nur eine Geschichte der Erleuchtung, sondern auch der Gewalt. Im Namen eines Gottes wurden Kriege geführt, Menschen verbrannt, Frauen entrechtet, Kinder missbraucht. Die Kreuzzüge, die Inquisition, die Hexenverfolgungen, der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche, Ehrenmorde, Zwangsehen und religiös motivierte Anschläge – all das sind nicht Ausnahmen, sondern Symptome eines tieferliegenden Problems: dem Anspruch auf absolute Wahrheit.
So verschieden die Religionen auch sein mögen – viele ihrer Grundwerte ähneln einander. Sie predigen Mitgefühl, Barmherzigkeit, Nächstenliebe. Und doch trennten sie oft mehr, als sie vereinten. Der Monopolanspruch auf Wahrheit, die Einteilung in Gläubige und Ungläubige, die patriarchalen Strukturen, die Angst vor Strafe und Sünde – all das hat über Generationen hinweg nicht nur individuelle Freiheit, sondern auch gesellschaftlichen Fortschritt behindert.
Heute – im Zeitalter globaler Krisen, in einer Welt der künstlichen Intelligenz, der Wissenschaft und des permanenten Wandels – stellt sich die Frage: Wozu brauchen wir noch diese alten Systeme? Welche Orientierung können sie uns wirklich noch geben? Und vor allem: Was passiert mit den Jüngsten, wenn wir ihnen die alten Dogmen statt einer offenen, lebensbejahenden Haltung mitgeben?
Kinder sind keine Eigentümer eines Glaubens. Sie werden hineingeboren in Systeme, die sie nicht hinterfragen können. Dabei brauchen sie keine Religion, um Mitgefühl zu entwickeln. Sie brauchen Fürsorge, Bildung, Sicherheit – und Erwachsene, die Verantwortung übernehmen.
Es ist Zeit, das Kind ins Zentrum unseres gesellschaftlichen Handelns zu stellen. Nicht als romantische Idee, sondern als klare politische und ethische Verpflichtung. Das sogenannte Kindeswohlvorrangigkeitsprinzip – international rechtlich verankert – fordert genau das: Dass bei allen Entscheidungen, ob staatlich oder privat, das Wohl des Kindes an erster Stelle steht.
Doch dieses Prinzip bleibt viel zu oft ein Papiertiger. Noch immer werden Kinderrechte zugunsten wirtschaftlicher, politischer oder religiöser Interessen übergangen. Noch immer fehlt es an einer konsequenten Umsetzung – in Bildung, Gesundheit, Schutz und Teilhabe.
Dabei könnte das Kindeswohlvorrangigkeitsprinzip zum neuen ethischen Anker unserer Zeit werden. Ein gemeinsamer Nenner, der nicht trennt, sondern vereint. Es ist universell, menschenbezogen, zukunftsorientiert. Es fragt nicht nach Religion, Herkunft oder Status – es fragt danach, was ein Kind braucht, um gesund, frei und sicher aufzuwachsen.
Anstatt nach göttlichen Geboten zu suchen, könnten wir uns von etwas viel Konkreterem leiten lassen: der Verantwortung für unsere Kinder. Denn wer das Kind schützt, schützt die Zukunft. Wer dem Kind Würde gibt, gibt der Menschheit eine Chance.
Dieser Gedanke ist keine Absage an Spiritualität. Im Gegenteil: Es ist ein Aufbruch zu einer neuen Form von Verbundenheit – jenseits von Religionen, Kirchen und starren Systemen. Eine Form von Menschlichkeit, die nicht im Himmel verankert ist, sondern auf der Erde blüht – im Blick eines Kindes, im ersten Schritt auf unsicherem Boden, im unbeirrbaren Vertrauen, das uns nur ein Kind entgegenbringen kann.
Lasst uns gemeinsam unsere Kinder schützen.
Denn in ihren Augen spiegelt sich heute die Welt von morgen.
Und was wir ihnen heute geben, wird das sein, worin wir morgen leben.